Schwarz. Alles um ihn herum ist schwarz. Er hört ein leises Rascheln, wie wenn ein kalter Herbstwind die Blätter von den Bäumen reist und sie weit mit sich trägt. Er zittert. Ein dumpfer Schmerz sitzt in seinem Kopf und hält sich mit eisernen Klauen fest, ein Pochen, das an und wieder abschwillt und eine Welle von Schmerz durch seinen Kopf jagt.
Er versucht den Kopf zu heben, doch schon diese leiseste Anstrengung verstärkt den pochenden Schmerz um ein vielfaches, wie, als würde ein Riese zornig auf ihn einschlagen, fühlt es sich an.
Sein Kopf droht zu zerspringen. Das Rascheln verstummt plötzlich, so schnell wie es gekommen war ist es nun wieder fort.
Im Stillen fragt er sich, wo er gerade war, doch noch immer viel im das Denken schwer, er war kaum in der Lage einen vollständigen Gedanken zu fassen. Langsam ebbt der Schmerz ab und lässt das gleiche, dumpfe Pochen wie zuvor zurück. Lange Zeit liegt er da, liegt auf dem harten, kalten Boden, der sich wie polierter Marmor anfühlt. Kalt und hart.
Sein Kopf ist leer, eine tiefe Schlucht die sich endlos in der Tiefe verliert, so leer wie als hätte eine launische Bö beschlossen seine Gedanken, sein Selbst mit sich zu reißen. Alles leer, denkt er sich.
Der Schmerz ebbt ab, langsam, aber sicher. Diesmal gelingt es ihm den Kopf zu heben, doch noch immer umhüllt ihn kalte, grausame Schwärze und lässt ihn trostlos, einsam zurück. Er zittert. Jetzt fällt es ihm ein, er muss die Augen öffnen. Er versucht es, doch ihm wird schmerzlich bewusst, dass auch dies nicht gelingt. Hat er auch dies verlernt, vergessen?
Es fühlt sich an, als würden seine Lider zusammengehalten werden, als wären sie schwerer als jeder Fels, als jeder Berg. Er lässt seinen Kopf zurück auf den kalten Fels sinken. Er wartet, wartet ab ob das Rascheln zurückkommt, ob diese belastende Schwere von seinen Liedern fällt. Vergeblich.
Langsam entschwinden ihm seine Gedanken. Er versucht sie zufassen, sie einzufangen, doch sie gleiten wie Wasser durch seine Finger, verschwinden, lösen sich wie Feuer, dass von einer plötzlich Flut erfasst wird, auf. Stille.
Die Müdigkeit holt ihn ein, langsam und auf leisen Pfoten schleicht sie sich an ihn heran, schmiegt sich an ihn und hüllt ihn in ein weiches, warmes Tuch, das sich um ihn schlingt. Sie verführt ihn, lässt ihn nicht mehr los. Er schläft ein.
Isaak schlug die Augen auf. Er hatte etwas gehört, ein leises Klopfen, ähnlich den Hufschlägen der Pferde, wenn sie über den gepflasterten Weg trabten.
Er richtete sich auf, überprüfte den Sonnenstand und stellte fest, dass es erst früher Morgen war. Goldene Strahlen leckten an den Dächern Loriens. Er lauschte erneut nach dem Klopfen, doch es war verstummt. Nur die Ratten huschten über die Straße und suchten nach etwas Essbarem.
Der Junge blinzelte schläfrig der aufgehenden Sonne entgegen, reckte sich und stand gähnend auf. Seine Glieder fühlten sich von der Nacht immer noch kalt an. Da es in der Nacht geregnet hatte und Isaak wie die meisten Waisen einfach nur auf der Straße gelegen hatte, trieften seine Kleider noch immer vor Nässe.
Ein kalter Herbstwind fegte durch die Gasse und lies ihn frösteln. Zitternd lief er los und vergrub seine Hände in den Hosentaschen seiner ledernen, schwarzen Hose.
Da die Gassen Loriens nicht gepflastert waren, sammelte sich das Regenwasser in unzähligen Pfützen, die die Sonnenstrahlen wie Spiegel reflektierten und sie an die Wände der kleinen Holzhütten warfen. Nachdenklich stapfte er über den matschigen und feuchten Boden und spürte die Nässe kaum, die seine hohen Stiefel durchdrang.
Hier unten in der Gosse, wie die Alten sie immer nannten, war das Leben schwer. Armut und ständige Prügeleien machten das Leben nicht gerade zur reinsten Freude.
Oft beneidete Isaak die reichen Jungen und Mädchen die auf ihren hochgewachsenen Pferden durch die Stadt ritten. Reich und eingebildet waren sie und warfen ihm und den anderen Kindern immer nur angeekelte Blicke voller Verachtung zu. Demütig mussten sie dann die Köpfe senken, sonst wurden sie mit einem Peitschenhieb der Garde bestraft, doch insgeheim bewunderte er diese Jugendlichen. Sie waren zwar eingebildet, konnten aber lesen und schreiben und ihre Meinung äußern ohne sofort mit einem Tritt in den Hintern verjagt zu werden.
Manchmal wünschte er sich an ihre Stelle. Er stellte sich vor, wie er mit ihnen durch die weiten Straßen der Stadt ritt und schließlich die langen Waldwege entlang, denn dies beobachtete Isaak oft, wenn er im Wald umherstromerte. Lächelnd saßen die Mädchen und Jungen dann auf ihren Pferden und unterhielten sich über die Schule, die Geschäfte ihrer Eltern und über die Geschenke, die sie gerade von ihren Verwandten bekommen hatten.
"Isaak!" brüllte ihm plötzlich eine Stimme ins Ohr und er schrak aus seinen Träumereien auf. Erschrocken blickte er in zwei große, haselnussbraune Augen, die ihn wütend anblitzten. "Sag mal bist du taub?" fragte Skarys entrüstet und boxte ihm kräftig gegen die Schulter. "Nein, bin ich nicht", erwiderte er mit einem sarkastischen Grinsen im Gesicht. Skarys lächelte ihn an und gemeinsam schlenderten sie den Weg in Richtung Südteil der Stadt, wo die Handwerker, Schneider und Gerber ihre Unterkünfte hatten.
"Seit wann bist du wach?", fragte sie plötzlich und musterte ihn mit einem schwer zu deutenden Blick, aber Isaac glaubte so etwas wie Spott zu erkennen. Er zuckte die Achseln und antwortete nicht, was Skarys anscheinend als Beleidigung deutete, denn sie zog einen Schmollmund und starrte ihn wütend an.
"Weiß nicht", brummte er schließlich. "Noch nicht sehr lange jedenfalls", fügte er hinzu und lächelte Skarys flehend an.
"Schon gut", meinte sie nur und deutete auf zwei Jungen, die sich um ein Laib Brot prügelten. "Das haben wir nun von unsrem tollen König", schnaubte sie und lief zu den zweien. Die beiden, so vermutete Isaak, waren wahrscheinlich zehn oder elf und hatten beide strohblondes Haar, was wie ein Büschel Gras von ihren Köpfen abstand. Als sie Skarys kommen sahen, hörten sie auf sich gegenseitig eins auf die Nase zu hauen und plötzlich schauten zwei Augenpaare, das eine dunkelgrün und das andere himmelblau, sie hungrig an. Skarys ging vor ihnen in die Hocke und lächelte sie sanft an. "Wem gehört den das Brot?" fragte sie und der mit den grünen Augen antwortete. "Dem Bäcker", sagte er mit mädchenhafter Stimme. "Ren und ich haben es gestohlen", fügte er hinzu und senkte beschämt den Kopf, was Ren ihm nachahmte. Die beiden sahen aus, wie zwei Hunde, die eine Tracht Prügel erwarteten, aber Skarys lächelte nur besänftigend, nahm ihnen das Brot, was sie nur wiederstrebend hergaben, ab und zerteilte es in zwei Hälften.
"Hier", sagte sie und gab jedem eine Hälfte. Die Jungen schauten sie einen Augenblick ungläubig an und rannten dann, jeder mit seiner Hälfte unter dem Arm, zur nächsten Gasse, wo sie vom Schatten verschluckt wurden.
"Wenn das so weiter geht, hungern wir bald alle aus", meinte Skarys entrüstet, schaute sich noch einmal um und gesellte sich wieder zu Isaak, der ein Stück vorausgegangen war. Er nickte nur und deutete nach einer Weile, in der sie schweigend nebeneinander gegangen waren, auf eine kleine Schmiede, aus dessen Schornstein bereits grauer Rauch stieg.
"Ich muss dann mal los", sagte er entschuldigend zu Skarys, die ihm nachdenklich nachblickte, schlängelte sich durch eine Reihe von diskutierenden Handwerkern hindurch und verschwand schließlich im Inneren der Schmiede.
Eine Woge heißen Dampfes begrüßte ihn und nahm ihm einen kurzen Moment die Sicht, dann ertönte schon Farans polternde Stimme.
"Isaak, komm schon her, wie jeden Morgen zu spät!", rief er mit einem griesgrämigen Unterton in der Stimme.
Isaak schmunzelte und trat zu Faran an den Schmiedeofen. Faran war ein Mann mittleren Alters, der für seine Künste in Sachen Stahl und Eisen in ganz Lorien bekannt war. Das schwarze, struppige Haar und der dazu passende Bart, gaben ihm ein herbes Aussehen, doch unter dieser abweisenden Maske, verbarg sich ein gutmütiger Mann, der hilfsbereit und für viele Waisen ein Vater war, genau wie bei Isaak.
Faran nahm die stählerne Klinge, die für Isaac bestimmt war, aus dem Ofen und legte sie auf den Amboss. Funken sprühten als er mit voller Wucht auf den geröteten Stahl einschlug und es so in die passende Form brachte. Faran hob die Klinge mit einer Zange auf und betrachtete sie von allen Seiten. Schließlich tauchte er sie, mit einem Lächeln im Gesicht, in ein tiefes Becken mit kaltem Wasser. Mit einem unheimlichen Zischen, dass an das Fauchen einer Bergkatze erinnerte, umhüllte das kalte Wasser die Schneide. Weißer Nebel nahm Isaak für einen kurzen Augenblick die Sicht, bevor Faran ihm stolz das vollendete Schwert zeigte.
Der Stahl glühte noch leicht, als Isaak das Schwert mit einer freudigen Geste entgegen nahm und es schwungvoll durch die Luft schwenkte. Faran stieß ein Lachen aus, dass mehr an das Bellen eines Hundes erinnerte, als an ein Lachen.
Der Knauf der Klinge war aus feinem Holz, vermutlich Esche, geschnitzt und stellte den Kopf eines Feueradlers dar, der mit tückischen Augen die Umgebung musterte. Isaak lächelte als er daran dachte, wie solch ein Adler durch die Lüfte glitt und mit seinen schaurigen Rufen jegliches Wild vertrieb.
Der Feueradler war das Wappen Loriens. Ein großer, kupferfarbener Kopf mit einem gebogenen, gelben Schnabel, zwei nebelgrauen Augen und einem Paar ausgebreiteter Schwingen auf moosgrünem Grund, flackerten im Herbstwind auf den Türmen der Stadt.
Lorien schmiegte sich an den Vulkan Abaton, der als erloschen galt und hatte sich daher vor vielen hunderten von Jahren den Feueradler zum Wappen genommen, der noch immer seine Bahnen durch die dicht bewaldeten und fruchtbaren Gebiete Loriens zog.
Faran holte ihn mit einem Schulterklopfen aus seinen Gedanken. "Dies ist eines meiner besten Schwerter, gib gut darauf Acht!", meinte er mit polternder Stimme und reichte ihm eine lederne Scheide und den dazu passenden Waffengurt. "Behüte dich vor der Stadtwache, die sehen es nicht gerne, wenn Jungen aus der Gosse mit Schwertern spielen", sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln.
"Aber jetzt wieder an die Arbeit", sagte er und holte einen grob behauenen Rohling aus der benachbarten Lagerkammer.
Isaak band sich den Gurt um und machte sich mit Faran an seiner Seite an die Arbeit.
Nach mehreren ermüdenden Stunden in der Schmiede, streifte Isaak nun einsam durch die Wälder, die Lorien wie ein Schutzwall umgaben. Die untergehende Sonne verlieh den Bäumen eine goldene Krone und lockte Isaac ein Lächeln hervor, das er nur selten zeigte. Das Schwert in der rechten Hand, schlich er ruhelos durch den Wald, fühlte sich wie ein echter Krieger und genoss das Zwitschern der Vögel, die in riesigen Schwärmen aus dem Süden zurückkehrten.
Der letzte Winter war hart gewesen. Eisige Kälte hatte sich wie ein Totentuch über Lorien gelegt und so mancher war in dieser erstickenden Kälte ums Leben gekommen, als er die Stadtmauern verließ um zu jagen.
In dieser Zeit blieb Isaac oft bei Faran um sich an seinem Feuer zu wärmen, was dem bärtigen Schmied zu gefallen schien. Lächelnd erinnerte sich Isaak daran, wie er eines Abends durchgefroren bei Faran an die Tür hämmerte und der Schmied ihn wütend zu Recht gewiesen hatte, wie dumm er doch sei, und das man bei solcher Kälte nicht draußen umher stromerte.
Der Ruf eines Vogels holte ihn aus seinen Gedanken zurück und er schaute verwundert auf. Über ihm zogen die Kuriervögel der Boten Loriens ihre Kreise, beobachteten ihn mit ihren stechend gelben Augen, so schien es ihm, bevor sie schließlich abschwenkten und mit grauenvollen Rufen, die wie das Knarzen einer rostigen Handschelle klangen, in Richtung Lorien davon flogen.
Verwirrt wand sich Isaac ab und steuerte einen kleinen Tümpel an, der sich hinter einer Gruppe von Bäumen ein windsicheres Versteck gesucht hatte. Isaak kam oft an diesen See und gönnte sich einen Augenblick der Ruhe. Hier fühlte er sich sicher.
Wie als hätte der Tümpel ihn bereits erwartet, schwabbte eine kleine Welle, vermutlich von einer launischen Bö angefacht als Willkommensgruß auf ihn zu. Im Schneidersitz setzte sich Isaac an das Ufer und tauchte die Klinge, die er noch immer in der Hand hielt, in das eiskalte Wasser.
Das Wasser leckte gierig an dem silbernen Stahl und Isaak musste schmunzeln, in der Vorstellung, wie wässrige Hände versuchten, das Schwert in die Tiefe zu ziehen. Mit einem leisen Zischen zog er es wieder hervor und trocknete es an dem Saum seines Mantels ab.
Noch einmal beugte er sich über den Tümpel. Himmelblaue Augen blickten ihm entgegen, die das tiefe Blau des Wassers spiegelten. Nachdenklich betrachtete er sein Spiegelbild. Eine hohe Stirn, zwei volle Lippen, eine gerade Nase und ein leicht gerundetes Kinn. Mittellanges, aschblondes Haar viel ihm bis knapp über die Ohren. Er war nicht hässlich, gestand Isaak sich ein und grinste über seine eigenen Gedanken. Eigentlich sogar hübsch, fügte er immer noch grinsend hinzu.
Plötzlich viel sein Blick auf etwas Glänzendes, was am Grund des Tümpels lag, vielleicht eine Brosche?
Kurzerhand fasste er den Entschluss, dieses glänzende Etwas heraus zu holen. Er streifte seine Kleider ab und sprang in den See, der ihn sofort gierig verschluckte. Mit kräftigen Zügen schwamm er, mindestens zwanzig Fuß tief musste er sein. Gerade als sich seine Hand um die Brosche, wie er nun sicherstellte, schloss, prallte etwas Glitschiges gegen ihn. Er stieß einen erschrockenen Schrei aus und paddelte zurück an die Oberfläche.
Gerade noch rechtzeitig, wie ihm bewusst wurde, stieg er aus dem Wasser und warf sich ans Ufer. Zögernd schaute er sich um und blickte in das Gesicht einer Wassernymphe. Wütend zischte sie ihn an, bevor sie erneut abtauchte und am Grund des Sees verschwand.
In seiner Aufregung hatte Isaak völlig vergessen, dass die Wassernymphen gerne mal ein Stück Menschenfleisch probierten. Zitternd erinnerte er sich an die erste Begegnung mit einem dieser menschlichen Fische. Kalte, graue Augen hatten ihn angestarrt und der Mund dieser Nymphe war weit aufgerissen und zeigte deren spitze lange Zähne. Damals, als Skarys und er vielleicht zehn gewesen waren hatte er mit ihr an einem Teich gespielt und sie waren von einer Wassernymphe angegriffen wurden.
Er schüttelte den Kopf um seine wirren Gedanken zu vertreiben und schlüpfte rasch in seine Kleidung, die ihn schnell aufwärmte. Noch einen Augenblick schaute er auf die ruhige Fläche des Sees, bevor er sich der Brosche zu wand.
Sofort erkannte Isaak, dass sie aus Silber war. Wenn er bei Faran in der Schmiede half, viel sein Blick oft auf eine dieser Broschen, aber alle trugen sie das Symbol der Stadt – den Feueradler. Diese hier ähnelte ihnen zwar, denn auch auf ihrer Oberfläche prangte ein Adler, doch dieser hier hatte sechs Schwingen. Drei links, drei rechst und jede versetzt zu der anderen, so dass es aussah, als würde der Adler gerade mit den Flügeln schlagen.
Wage kam ihm dieses Symbol bekannt vor, aber er konnte sich nicht erinnern, wo er es schon einmal gesehen hatte.
Schulterzuckend befestigte er sie schließlich an seinem Hemd, bevor er den Mantel wieder zuknöpfte.
Er stand auf, nahm das Schwert erneut in seine Hand und übte ein paar Finten, Schläge und Ausweichmanöver, die ihm Faran in der schmiede gezeigt hatte, als er noch mit Stöcken und später mit richtigen Schwertern, gegen den ehemaligen Krieger kämpfte.
Schließlich machte er sich auf den Rückweg, denn er hörte bereits das ferne Hufgetrappel der Pferde, die wie jeden Abend die eingebildete Meute auf ihren Rücken durch den Wald trugen.
Auf leisen Sohlen schlich er durch den Wald, hörte, wie das Getrappel lauter wurde und fand sich bald an dem weg wider, an dem er jeden Abend lauerte. Verborgen saß er hinter einen Strauch. Der Koloss wurde von vier Soldaten der Stadtwache flankiert. Als Vorhut zwei und am Ende des Zugs, der gemütlich durch den Wald trabte, zwei. Schon schnappt er die ersten Gesprächsfezen auf, als plötzlich donnernder Hufschlag in der entgegengesetzten Richtung der Truppe erschallte. Die Soldaten hielten die Pferde an, die bereits unruhig auf der Stelle tänzelten und die Ohren flach angelegt hatten. Auch die Jugendlichen hielten inne und starrten gebannt in die Ferne, wo der Weg um eine Kurve ging. Ein kurzer Augenblick vollkommener Stimme, dann brach eine Horde Rebellen hervor und stürmte auf großen, blitzschnellen Pferden auf den Tross, der in Entsetzen erstarrt war zu.
Die Wachen fingen sich als erste und zogen ihre Schwerter. Einer der Männer brüllte, man solle die Pferde wenden, doch in dieser Hektik gelang es keinem, bis die ersten Tiere scheuten, bockten und ihre Reiter abwarfen. Die vier Soldaten saßen noch immer auf ihren Pferden, die plötzlich ruhig waren und mit Schaum vor dem Maul auf die angreifende Meute starrten. Nur noch knapp zehn Pferdelängen trennten die Gruppe vor den Wilderern die ein halbes Dutzend zählten, als die bleichen Männer ihre Pferde angaloppieren ließen und zu viert auf die Meute zustürmten.
Für einen Moment saß auch Isaak wie erstarrt hinter seinem Busch und überlegte fieberhaft, wie er helfen konnte, als ihm sein Schwert einfiel.
In dem Moment als der erste der Wachen zu Boden ging brach auch der erste der Rebellen durch die notdürftige Verteidigung. Ein paar der dutzend Mädchen und Jungen erwachten aus ihrer Starre und schauten sich nach den Pferden um, doch diese waren bereits über Berg und Täler. Ein hünenhafter Bursche zog ein kurzes Messer und brüllte seine Freunde an, sie wollen wohl verschwinden, bis sich die Jugendlichen abwandten und los rannten.
Kurz bevor der Rebell den Jungen erreichte, sprang Isaak mit gezücktem Schwert aus dem Busch und holte den Reiter mit einem gezielten Stich, der wohl auch eine Menge Glück in sich hatte, aus dem Sattel.
Das reiterlose Pferd stürmte an den beiden Jungen vorbei und der junge Hüne schickte den vor Schmerz stöhnenden Rebell in die Bewusstlosigkeit, indem er ihn mit der Spitze seines Stiefels gegen die Schläfe trat.
Der Hüne und Isaak schauten sich einen kurzen Augenblick an, bis der ältere Junge schließlich nickte.
"Andrian", sagte er mit auffallend weicher Stimme.
"Isaak", antwortete Isaak.
Ein weiterer Rebell brach durch und stürzte sich auf Andrian, der dem Schwert auswich und dem Mann einen Stich in den Oberschenkel zufügte. Der Rebell brüllte wütend, doch plötzlich viel er bewusstlos aus dem Sattel. Isaac hatte ihn mit der flachen Seite seines Schwertes im Nacken getroffen.
Andrian griff nach den Zügeln des bockenden Pferdes und schwang sich in den hohen Sattel.
Ein weiterer Soldat viel, doch Andrian schloss die Lücke die entstanden war sogleich. Noch drei der Rebellen hielten sich im Sattel, drei weitere lagen bewusstlos oder tot am Boden. Sie schaffen es, dachte Isaac und wollte sein Schwert bereits senken, als ein dritter Rebell einen der Soldaten tötete und auf ihn zustürmte.
Schweiß brach auf Isaaks Stirn aus und der Junge stürzte sich voller Unbehagen auf den Rebell.
Eines, was er in den Gassen Loriens gelernt hatte, war flink und wendig zu sein und dies machte er sich nun zunutze. Zu Pferd hatte der Rebell eine größere Chance als er, aber Isaac wich jedem seiner Hiebe geschickt aus, bis er dem Mann die Klinge in die Seite rammte und ihn somit zu Fall brachte. Doch noch im Sturz holte der Rebell aus und seine Klinge durchschnitt Mantel, Hemd und Haut von der Schulter bis zur Hüfte.
Vor Schmerz verzog Isaak das Gesicht und stieß einen leisen Fluch aus. Taumelnd presste er seinen Arm auf den Schlitz, doch das Blut durchdrängte bereits den Mantel.
Isaak sah, wie Andrian und der letzte Soldat den Rest der Meute zurück schlugen und dann auf den Pferden zurück galoppiert kamen. Andrian blutete aus einer Wunde am Arm doch der Soldat schien wie durch ein Wunder unverletzt.
Keuchen ließ Isaak sich an einem Baumstamm zu Boden gleiten, legte das Schwert beiseite und krümmte sich vor Schmerz. Der Schnitt musste tief sein, dachte er mit erschreckender Ruhe.
Er beobachtete wie Andrian und der Soldat, vermutlich der Hauptmann, die Jugendlichen zusammen riefen und sich erkundigten, ob jemand verletzt sei. Die Mädchen und Jungen schüttelten mit den Köpfen, doch die Überheblichkeit machte sich langsam wieder auf ihren Zügen breit.
Plötzlich viel der Blick eines blonden, hübschen Mädchen auf Isaak und Fassungslosigkeit machte sich auf ihren Zügen breit.
"Hauptmann …", sagte sie und deutete auf Isaac.
Nun viel auch der Blick des Hauptmannes auf Isaak, der käsebleich an dem Baumstamm lehnte.
"Was ist Prinzessin?", fragte er sichtlich verwirrt als das Mädchen plötzlich lostürmte und den erschrockenen Isaak auf die Beine zerrte. Das Blut fing an heftiger zu fließen und Isaak verzog vor Schmerz das Gesicht. Sein Mantel hing in Fetzen und nun schien auch der Hauptmann zu erkennen, was das Mädchen so erschreckt hatte.
Die Brosche, fiel es ihm plötzlich ein, dass ist das Zeichen des Königs. Erkenntnis zeichnete sich in seinem Gesicht ab, als der Hauptmann ihn packte und schmerzhaft durchschüttelte.
"Der Mörder meiner Mutter!" kreischte die Prinzessin plötzlich und wollte auf ihn losgehen, doch Andrian hielt sie ebenso fassungslos wie Isaak es war, zurück.
"Wie heißt du?", fragte der Hauptmann mit zorniger Stimme.
"Das ist Isaak", übernahm Andrian seinerseits.
Der Hauptmann nickte und musterte ihn eine Weile, bis ihm bewusst wurde das Isaak verletzt war. Grob setzte er ihn wieder ab und wandte sich an Andrian.
"Wir müssen seine Wunde verbinden", murmelte er. "Fangt die Pferde ein!", rief er schließlich, doch die Jugendlichen bewegten sich nicht vom Fleck.
Die Augen des Hauptmanns blitzten zornig, als er sie erneut anbrüllte, die Pferde zu suchen und schließlich machten sich die ersten auf den Weg. Die Prinzessin wurde noch immer von Andrian umklammert.
Tränen liefen über ihr Gesicht und sie stieß wüste Flüche aus.
Der Hauptmann lies sich vor Isaak nieder und zog ihm Mantel und Hemd aus. Mit zugekniffenen Augen musterte das Mädchen ihn, bis ihr Blick auf die Wunde fiel und sich ihre Augen schlagartig weiteten.
Isaak tat einen zögerlichen Blick nach unten und zuckte kaum merklich zusammen. Das Blut sickerte noch immer aus der Wunde die mindestens ein Fingerbreit tief sein musste. Der Soldat zerriss seinen Mantel in lange Streifen und verband seinen Oberkörper so gut wie es ging.
Beinahe sofort versiegte der Blutstrom, wie Isaak erleichtert feststellte.
Der Hauptmann reichte ihm das blutdurchtränkte Hemd und Isaak zog es zögernd über. Er stand vorsichtig auf, angelte sich das Schwert vom Boden und schob es zurück in die Scheide.
"Wo hast du das her", fragte Andrian anstelle des Hauptmannes und deutete auf die Scheide, in der das Schwert mit dem Adlerkopf steckte.
"Ich hab´s gefunden", meinte Isaac schulterzuckend. "Nicht gestohlen, gefunden", fügte er noch sicherheitshalber hinzu, ohne sich die Lüge anmerken zu lassen.
Andrian und der Hauptmann wechselten einen kurzen Blick.
"Ich bin Frandal, Hauptmann der Stadtwache und Bruder von Faran dem Schmied", sagte er und reichte Isaak die Hand, in die er zögernd einschlug. Frandal nahm den Helm ab und nun erkannte Isaak die Ähnlichkeit zwischen ihm und Faran. Der gleiche, herbe Gesichtsausdruck und das ebenso schwarze Haar.
"Das ist Prinzessin Eowynn, Tochter unseres Königs."
Isaak nickte und deutete eine leichte Verbeugung an, doch das Mädchen starrte ihn weiterhin zornig und schweigend an.
Plötzlich hörten sie ein leises Rascheln im Unterholz und der erste Adlige kam mit seinem Pferd.
Sofort richtete sich Frandal an den Jungen. "Reite nach Lorien und komme mit einem Dutzend der Stadtwache wieder, los!", rief er barsch und der Junge schwang sich auf seinen großen Fuchs. Bevor er sein Pferd angaloppieren lies, drehte er sich noch einmal um und starrte Isaak an, schließlich gab er seinem Pferd die Sporen und galoppierte in Richtung Lorien davon.
"Und nun zu dir. Wo hast du die Brosche her?", fragte er Isaak, der leicht gekrümmt dastand.
"Gefunden, im See", antwortete er knapp und deutete in die Richtung wo der See lag.
"Ist dir bewusst, dass dies die Brosche der Königin, der verstorbenen Königin ist?"
Isaak schaute verdutzt auf und schüttelte mit dem Kopf. "Nein", sagte er wahrheitsgemäß. "Kann es nicht sein das es eine andere ist?", fügte er unbehaglich hinzu, als nun auch Adrian düster dreinschaute.
"Nein du Trottel", schnaubte Eowynn plötzlich und wand sich aus Andrians sanfter Umklammerung. Vor Isaac, der sie unbehaglich musterte, blieb sie stehen und verpasste ihm plötzlich eine schallende Ohrfeige.
"Nur ein Exemplar fehlt, und zwar dieses!", rief sie.
Der Hauptmann und Andrian wechselten einen besorgten Blick, als sich Eowynn zu Isaacs Ohr vorbeugte.
"Mörder", zischte sie und trat an Andrian Seite.
"Hauptmann", sagte sie und deutete auf Isaac.
Was wird denn das jetzt, dachte der Junge und schaute zwischen der Prinzessin und Frandal hin und her. Frandal trat ergeben vor, hob die Faust und schlug dem vor Schreck erstarrten Isaac mit gnadenloser Wucht in die Magengrube. Mit einem Stöhnen viel er in eine bleierne Bewusstlosigkeit.
Kaltes Wasser spritze Isaak ins Gesicht und er fuhr stöhnend auf. Blinzelnd vertrieb er das Wasser aus seinen Augen. Als sich seine Sicht geklärt hatte und aufsah, blickte er in ein kantiges Gesicht, aus dem heraus ihn zwei graue Augen anschauten. Der Mann der vor ihm stand, richtete sich auf und stellte den leeren Wassereimer beiseite. Ein dumpfes Pochen über seinen Rippen, erinnere ihn an die Verletzung. Der Wächter schien seine Gedanken erraten zu haben. "Deine Wunde wurde versorgt", sagte er kurz angebunden und wollte die Zelle schon verlassen.
"Warte!", rief Isaak ihn zurück. Der Wächter blieb stehen, drehte sich aber nicht um.
"Wo bin ich?", fragte er.
"Im Schloss Junge, im Kerker", antwortete der Mann und ging, bevor Isaak weitere Fragen stellen konnte.
Verwundert blieb er zurück und nahm sich die Zeit, sich in der Zelle um zuschauen. Besonders komfortabel war sie nicht, stellte er mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen fest. Erst jetzt bemerkte er, dass man ihm die Hände hinterm Rücken gefesselt hatte. Die Zelle musste tief im Erdreich liegen, denn keine Fenster waren in die Wände eingelassen. Lediglich der schwache Feuerschein einer Fackel vor seiner Zelle erzeugte ein wenig Licht.
Ein Lager aus Stroh und ein kleiner Tisch auf dem ein Krug mit Wasser stand war die einzige Ausstattung in diesem Raum. Lächerlich, dachte sie Isaak, einen Krug mit Wasser bereitzustellen, wenn die Hände gefesselt sind. Sein Blick fiel auf den Eimer, den der Wächter zurück gelassen hatte.
Seufzend lies er sich auf dem Strohlager nieder und dachte über seine missliche Situation nach. Er hätte die Brosche einfach liegen lassen sollen, sich keine Gedanken darüber machen sollen, aber wie immer hatte seine Neugierde gesiegt. Und dann diese Rebellen. Aber er war mit sich zufrieden. In Andrians Augen hatte er so etwas wie Achtung gesehen, nachdem er den Reiter niedergestreckt hatte. Er erinnerte sich vage an seinen Vater, der angeblich als Ritter in der Königsgarde gedient hatte. Das Kämpfen wurde ihm mit in die Wiege gelegt, schloss er lächelnd.
Er schaute an sich hinunter und stellte enttäuscht, aber nicht überrascht fest, dass man ihm das Schwert abgenommen hatte, nur der Waffengurt hing noch um seine Hüften. Ein frisches Hemd hatte man ihm angezogen und unter dem blassen Stoff konnte er den Verband erkennen.
Das ist also der Dank, wenn man die Adligen rettet, dachte er zerknirscht.
Die Brosche, wie er feststellte, hatte man ihm abgenommen.
Das Stroh fühlte sich kalt und hart an, als Isaak es sich auf dem improvisierten Lager gemütlich machte. Müde und erschöpft schloss er die Augen und sank in einen unruhigen, traumlosen Schlaf.